Aus dem Jetzt heraus in das Jetzt hinein
Entdecken neuer Musik, aktueller Stilrichtungen, Videos, die nicht eine Auseinandersetzung mit etwas Vorhandenem sind und auch keine Replik etwas Gewesenem, sondern ein Statement, eine Intervention darstellen, die Diskussionsbeitrag oder einfach nur Beitrag eines aktuellen Geschehnisses, Problems, gemeinsame Jetzt-Welt, -Umgebung, -Handlungsraum, -Erlebnisraum, -Lebensraum sind.
Anstatt sich 'nur' mit der Geschichte eines Themas auseinander zu setzen und eine Welt voller Verweise auf und Zitate von wichtigen Momenten in der Geschichte dieses Themas zu bauen, sich überlegen, was ist das Moment, das mich an diesem Thema jetzt interessiert und wie schätze ich den jetzigen Stand, die jetzige Situation ein und was möchte ich wie dazu sagen? Was ist mein Statement dazu oder über welchen Punkt, welche Frage will ich die anderen zum nachdenken bringen, was möchte ich in Frage stellen, diffamieren oder einfach nur ins Bewusstsein rufen und sagen? Oder eine gute Alternative nennen, indem ich überspitze – die Darstellung der Situation mittels einer fiktiven Situation, die Behauptung einer alternativen Realität. Siehe Aktivitäten von Yes Men ... . Die andere Frage ist, wie verwende ich das Mittel des Live-Acts, der Performance, Installation...., wie verwende ich das Medium, dessen ich Fachmann bin, um mein Statement, meine Fragestellung, meinen Gedankenanstoß oder meine Kritik zu äußern und dass es eine coole Performance wird, in der sich die Leute amüsieren und doch nachdenken wollen. Und welcher zeitgemäßen Form des Amüsements, der Spannung, des Geflechts von Aufmerksamkeiten bediene ich mich oder welche Form muss ich dafür erdenken/inventer/probieren? Diese letzte Überlegung impliziert die Frage, wen will ich ansprechen? Aufmerksamkeitsgeflecht und Rahmen - Ort, Raum, Zeit- bestimmen, welches Publikum angesprochen werden soll / sich angesprochen fühlt, ich ansprechen möchte und welches Publikum ich erreichen werde.
Die belgische Theatergängerin und Tänzerin ist total überrascht, dass sie in Deutschland ins Theater gehen kann und einen Shakespeare sehen kann. Das gibt es in Belgien einfach nicht, wann wird da schon mal ein Shakespeare oder Lessing oder Schiller, ein alter Text komplett und wortgetreu aufgeführt? Die deutsche Theatermacherin in Österreich begreift die Vorstellung, in einem Land zu sein, in dem es keine Stadttheater wie in Deutschland gibt, in dem die Arbeitsstrukturen den Bedürfnissen zeitgenössischer Kunstproduktion entsprechen, permanent evaluiert und den Bedürfnissen angeglichen werden, als riesige Chance und Befreiung für die Theater- und Tanzschaffenden.
Arbeitsstrukturen, die nicht davon ausgehen, dass am Anfang des Projektes ein Text oder eine andere fixe Vorlage steht, sondern die so gemacht werden, dass ein gemeinsamer Arbeitsmoment und -raum im Jetzt erschaffen wird, um im Jetzt aus dem Jetzt heraus zu produzieren, im Ensemble, Kollektiv kreativ produktiv zu sein.
Und jeder arbeitet anders, da jedes Individuum anders funktioniert. Dementsprechend braucht jedes Team, jede Produktionseinheit auch andere Organisationsformen.
Eine feste Gruppe braucht keine feste Bühne. Eine feste Gruppe braucht ein gemeinsames Büro und einen Proberaum und eine gemeinsame Küche. Die Infrastruktur der Veranstaltung ist unabhängig zu sehen von der Infrastruktur der Produktion und Kreation. Eine Verkettung ist reiner Luxus, Gewähr eines Marktvorteils bestimmter Minderheiten und so, wie es in Deutschland praktiziert wird, die ästhetische Gleichschaltung der Kunst im Sinne des Spießbürgertums.
Was ist das für eine Gesellschaft, die permanent die Texte und Musik alter, verstorbener Künstler wieder und wieder anschaut und reproduziert und reaktualisiert und was ist das für eine Gesellschaft, in der das überhaupt nicht getan wird, in der alles Theater und Tanz immer aus dem Jetzt heraus in das Jetzt hinein arbeitet? Wie unterscheiden sich Belgien und Deutschland/Österreich grundlegend?
zubringer, Berlin 08/2009